Thema · Nachdenken über das letzte Ziel
Himmel und Hölle
von Prof. DDr. Thomas Marschler · 02.11.2016
Was sollen wir unter diesem „Himmel“ verstehen? Sicherlich nicht einen Raum „über der Erde“. Schon die Bibel verwendet das Wort „Himmel“ als Metapher, wenn sie darunter die Welt Gottes versteht. Letztlich ist „Himmel“ eine Chiffre für Gott selbst – für Gott in seiner Andersheit gegenüber allem, das wir hier und jetzt mit unseren menschlichen Sinnen erfassen. Nicht ein Ort, sondern Gott als personale Realität ist also das Ziel unseres Lebens. „Gott selbst möge dereinst nach diesem Leben unsere Stätte sein“, schreibt der hl. Augustinus (En. in Ps. 30,4).
Zusage, dass Gott selbst uns die Erreichung dieses Zieles möglich gemacht hat
Als Menschen suchen wir nach Gott, wenn wir uns nach absoluter Wahrheit und unbedingter Liebe sehnen. Aber wir wissen zugleich, dass wir diese Sehnsucht aus eigener Kraft niemals stillen werden. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Zusage, dass Gott selbst uns die Erreichung dieses Zieles möglich gemacht hat. Die Bibel sagt: Er ist der gute Vater, der uns durch seinen Sohn Jesus von Nazareth die Tür zum Himmel geöffnet hat. In der Kraft seines Heiligen Geistes will er uns bewegen, das Angebot ewiger Gemeinschaft mit ihm anzunehmen.
Der Himmel ist jetzt nicht mehr eine Chiffre für den fernen, ganz anderen Gott. Das „Reich der Himmel“ ergreift die Schöpfung, will sie verwandeln und heimholen. Diese Transformation hat begonnen in der Menschwerdung und im Ostergeheimnis Jesu. Sie bezieht seitdem jeden Menschen ein, der in Jesus Christus ein Kind Gottes wird, und sie wird sich vollenden in einer Erneuerung des Kosmos, auf dass Gott „alles in allem“ sei (vgl. 1 Kor 15,28).
Wie wir diese Vollendung bei Gott erleben werden, ist für uns jetzt noch so unbegreiflich wie Gott selbst. Wie wir über Gott nur im Ausgang von geschöpflichen Wirklichkeiten reden können, so auch über den Himmel. Darum bedient sich die Bibel vieler Bilder, wenn sie uns Gottes Verheißung nahezubringen versucht. Sie spricht vom ewigen Gastmahl, vom neuen Jerusalem, vom Haus des Vaters mit vielen Wohnungen, vom vollendeten Sabbatfrieden. Es sind Bilder, die an menschliche Erfahrungen glücklicher Begegnung und sicherer Geborgenheit anknüpfen. So und noch viel erfüllender muss es sein, wenn Gott uns miteinander an seinem Leben teilnehmen lässt und wir in ihm unsere Heimat finden.
„Gott schauen“ zu dürfen, „wie er ist“, bedeutet, von seiner Wirklichkeit ganz und gar durchdrungen zu werden
Die Theologen haben vor allem eine der biblischen Vollendungsmetaphern herausgegriffen und bedacht, weil sich in ihr die christliche Hoffnung in besonderer Weise auch für unser Denken erschließt: das Bild der „Schau Gottes“. „Wir werden ihn schauen, wie er ist“, sagt der Erste Johannesbrief (1 Joh 3,3). Was wir geistig schauen, das nehmen wir in uns auf. Von dem, was wir erkennen, wird unser Geist geformt und bestimmt. „Gott schauen“ zu dürfen, „wie er ist“, bedeutet darum, von seiner Wirklichkeit ganz und gar durchdrungen zu werden. Im irdischen Leben bleibt das unmöglich.
Die Erkenntnis Gottes im Glauben, die wir jetzt schon haben, ist, wie Paulus sagt, nur wie die Wahrnehmung rätselhafter Umrisse in einem Spiegel (vgl. 1 Kor 13,12f.). Im Himmel aber werden wir Gott „von Angesicht sehen“, weil die schwache Leuchte unseres Geistes erhoben wird in die Helligkeit des göttlichen Lichtes. Gott in Gott schauen zu dürfen – das ist die Erfüllung jeder menschlichen Sehnsucht nach Wahrheit und Glück. In dieser Hoffnung sind die Christen seit ältester Zeit dem Tod entgegengetreten. Im Angesicht des drohenden Martyriums schrieb der hl. Ignatius von Antiochien zu Beginn des zweiten Jahrhunderts der Gemeinde in Rom: „Lasst mich reines Licht empfangen! Dort angekommen werde ich Mensch sein“ (Ad Rom. 6,2).
Häufig hat man dem Christentum vorgeworfen, mit seiner Sehnsucht nach dem Himmel die Herausforderungen des Daseins auf der Erde aus dem Blick zu verlieren. Indem man das eigentliche Ziel des Lebens ins Jenseits verlege, vertröste man die Menschen, anstatt sie zu motivieren, die Bedingungen der Existenz im Hier und Jetzt zu verbessern. Im schlimmsten Fall werde die Religion damit zum ideologischen Werkzeug in der Hand der Herrschenden, die ihre Untergebenen gefügig halten wollen. Aber dieser Vorwurf greift zu kurz. Denn indem der Glaube sich zu einem letzten Ziel jenseits der irdischen Lebenszeit bekennt, ruft er nicht einfach zum stummen Ertragen der Gegenwart auf. Er wird vielmehr zum kritischen Korrektiv gegenüber allen weltlichen Absolutheitsansprüchen. Und er verleiht dem irdischen Leben eine Bedeutung, die es aus sich heraus niemals besitzen könnte.
Jede Minute auf Erden erhält unermesslichen Wert, weil wir aufgerufen sind, sie „im Angesicht der Ewigkeit“ zu gestalten
Wenn Gott uns als freien Wesen das Angebot des Himmels macht, dann bedeutet dies allerdings auch, dass wir es ausschlagen können. Die Konsequenz einer solchen Ablehnung wird in der christlichen Tradition mit dem Namen „Hölle“ bezeichnet. Sie besteht ihrem Wesen nach im ewigen Ausschluss von der Schau Gottes, einer nicht mehr revidierbaren Verfestigung der Absage an Gott, die für das Geschöpf ewiges Unglück und Verzweiflung bedeutet.
Die Theologen sind im Ausgang von bestimmten Worten der Schrift oft weiter gegangen und haben über besondere Strafen nachgedacht, die Gott in seiner Gerechtigkeit denjenigen zuteil werden lassen könnte, die seine Liebe abgelehnt oder sogar verspottet haben. Die von Künstlern des Mittelalters imaginierten Bilder einer Hölle als jenseitiger Folterkammer haben sich tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägt und verbinden sich bis heute unweigerlich mit ihrem Begriff. Vor allem aber wecken sie Unbehagen. Meint es Gott mit seiner Heilszusage ernst, wenn er einen Teil seiner Geschöpfe für immer dem Unglück anheim gibt? Wie ist es um seine Barmherzigkeit bestellt, wenn er endliche Vergehen mit nicht endenden Strafen belegt? Und könnte im Himmel irgendjemand glücklich sein, wenn er wüsste, dass ein Mensch, dem er auf Erden in Liebe verbunden war, für immer verloren ist?
Diese und andere Fragen werden heute nicht bloß von Religionskritikern, sondern auch von christlichen Theologen gestellt. Darum ist in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Ablehnung der traditionellen Lehre vom „doppelten Ausgang“ der Weltgeschichte zugunsten eschatologischer Konzepte erkennbar geworden, die mit dem endgültigen Heil aller Menschen rechnen oder es zumindest begründet erhoffen. Aber jedes Modell, das den Erlösungswillen Gottes nicht an der Freiheit des Menschen vorbei wirken lassen will, wird am Ende vor dem dunklen Geheimnis der Sünde ankommen, dessen radikalster Ausdruck das Nicht-bei-Gott-sein-Wollen ist.
Der Glaube hat nur ein einziges, positives Ziel: die ewige Gemeinschaft mit Gott
So bleibt wahr, was der christliche Schriftsteller C. S. Lewis sagt: „Am Ende werden nur zwei Gruppen von Menschen vor Gott stehen – jene, die zu Gott sagen: ‚Dein Wille geschehe‘, und jene, zu denen Gott sagt: ‚Dein Wille geschehe‘. Alle, die in der Hölle sind, haben sie sich erwählt.“
Für den Glaubenden aber sind Himmel und Hölle niemals zwei „nebeneinander“ stehende Optionen. Der Glaube hat nur ein einziges, positives Ziel: die ewige Gemeinschaft mit Gott. Wer dieses Ziel wählt, der wird es mit Gottes Gnade auch erreichen. Das ist eine Zusage, die wir in jener Liebe annehmen dürfen, die keine Angst mehr kennt (vgl. 1 Joh 4,18).