Vor Ort · Sehnsucht nach Leben

Auszug aus Angst und Depression

Ein traumatisches Ereignis entzieht Nathalie den Halt, entfremdet sie von ihrer Umwelt und stürzt sie in Angst und Depression. Ihr Glaube und die Sehnsucht wieder ganz zu sein werden zum Ausgangspunkt einer Reise, auf der sie Gott und christliche Gemeinschaft neu und heilsam kennenlernt.

von Nathalie H. · 01.02.2021

Symbolbild in schwarz-weiss: junge Frau bei Regen im Parker. Das Gesicht ist durch die Kapuze verdeckt.
Ein traumatisches Ereignis stürzen Nathalie in Depression und Einsamkeit. Symbolbild: eric-gilkes / unsplash.com

Als ich elf Jahre alt war, veränderte sich mein Leben von einem Tag auf den anderen. Ich wurde nicht darauf vorbereitet. Auf einmal sah ich die Welt mit ganz neuen Augen. Alles erschien mir so fremd, bedrohlich und unsicher.

Mein Vater, der bis dahin mein Fels in der Brandung gewesen ist, kam ins Gefängnis aus mir damals nicht nachvollziehbaren Gründen, wir verloren unser Unternehmen, nahezu unseren kompletten Besitz, jahrelang enge Freundschaften und die Zeitungen in unserer Stadt schrieben monatelang über uns auf der Titelseite.

Meine kleine innere Welt war völlig durcheinander gewirbelt. Seit dem Tag an hatte ich zunehmend mit Gefühlen von Todesangst, Ohnmacht, Verzweiflung und Einsamkeit zu kämpfen. Gerade weil ich in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen bin, durfte ich mir von all dem nichts anmerken lassen, so dachte ich. Außerdem war ich die Älteste in der Familie und wollte für meine beiden kleinen Geschwister stark sein. Ich lächelte, obwohl ich innerlich weinte. Ich machte gute Miene zu bösem Spiel. Meine Maske, hinter der ich mich versteckte, funktionierte die meiste Zeit beinahe perfekt. Sie war gefühlt der einzige Schutz, der mir noch blieb. Sie wurde zu meiner Überlebensstrategie.

Rückzug und Einsamkeit

Zuhause herrschte jeden Tag Streit mit meiner Mutter. Von meinen Freunden in der Schule fühlte ich mich nicht verstanden. Und in meiner Gemeinde hatte ich das Gefühl, nicht mehr sicher und willkommen zu sein wie früher. Tief in meinem Herzen sehnte ich mich nach Geborgenheit, Sicherheit und bedingungsloser Annahme. In meiner großen Not und Ausweglosigkeit suchte ich Halt in meinem Glauben an Jesus. Aber trotz allem realisierte ich allmählich, dass ich mein Vertrauen auch in ihn als einen guten Gott verloren hatte.

Als Kind wurde mir gesagt, dass mir nichts Böses passieren könne, wenn ich zu Jesus gehörte. Doch irgendwie passte das mit dem Erleben meiner Realität nicht zusammen. Mein Weltbild und mein Bild von Gott waren erschüttert. Ich versuchte mit der Angst, den immer stärker werdenden Panikattacken und der immer wiederkehrenden Depression zu leben. Es sah aus, als gäbe es für mich keinen Ausweg aus meinem dunklen Loch.

Indem ich Gott nicht an meine Wunden ließ und mich immer mehr von ihm zurückzog, entfernte ich mich innerlich auch von Menschen. Und schlussendlich von mir selbst. Gleichzeitig begann ich, eine Mauer um mein Herz zu bauen. Ich hatte Angst vor meiner Angst. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr umgehen konnte. Folglich versuchte ich all die schweren Gefühle in mir wegzudrücken mit der Hoffnung, sie würden mit der Zeit von alleine verschwinden. Die Konsequenz davon war eine zunehmend innere Einsamkeit, die sich in mir ausbreitete.

Sehnsucht nach Ganzheit und verändertes Beten

Im Jahr 2013 veränderte sich plötzlich mein Beten. Ich glaube, dass der Heilige Geist mich darin führte. Anders kann ich es mir heute nicht erklären. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich ihn darum bat, alles in mir ans Licht zu bringen, was er ans Licht bringen wollte. Ab dem Jahr fing ganz langsam mein innerer Heilungsprozess an. Seitdem –sieben Jahre später – hat sich viel in mir verändert.

Nach meinem Studienabbruch und zwei Klinikaufenthalten wohne ich nun seit über drei Jahren in der christlichen Langzeiteinrichtung „Eser 21“. Hier werde ich täglich therapeutisch begleitet und kann mein Leben aufarbeiten. Für mich ist das ein Wunder und eine Antwort auf meine vielen Gebete, so einen wunderbaren Ort gefunden zu haben. Ich fühle mich hier angenommen mit all meinem Schmerz, meinen Ängsten und meinem Erlebten.

Bevor ich in dieses Haus kam, war ich in meinen jungen Erwachsenenjahren auf vielen christlichen Konferenzen und Gemeinden unterwegs und habe für mich von den unterschiedlichsten Leitern und Pastoren aus der ganzen Welt beten lassen. Meine Hoffnung war, dass Jesus ein Wunder in mir vollbringt und mir eine „Sofortheilung“ schenken würde, was er aber letztendlich nicht tat. Ich verstand es nicht, denn ich sehnte mich so sehr nach innerer Ganzheit. Jetzt – Jahre später – weiß ich, dass es meistens der natürliche Prozess der Heilung ist, der tiefe und langfristige Veränderung im Herzen und im Charakter eines Menschen hervorbringt.

Leben in der Therapeutischen Wohngemeinschaft Eser 21

Das Zusammenleben mit meinen Mitbewohnern und die tägliche Gemeinschaft mit meinen Therapeuten hat viel in mir geheilt. Ich lerne, wie gesund Beziehung leben aussehen kann. Das erinnert mich immer wieder an Jesus, der über drei Jahre täglich enge Gemeinschaft mit seinen Jüngern gepflegt hat.

Obwohl es für mich jedes Mal unglaublich schmerzhaft und schambesetzt ist, Therapeuten und Gott an meine dunkelsten Stellen heranzulassen, merke ich, wie sich meine Mauer mittlerweile nicht mehr undurchdringbar anfühlt. Ich spüre, wie langsam neues Leben in meinem Herzen aufkeimt und ich immer mehr einen liebevollen Blick für mich selbst bekomme. Die Erkenntnis, dass ich richtig bin mit all meinen Gefühlen und Empfindungen, setzt sich durch. Ich lerne, meine Ängste anzuschauen, sie nicht wegzudrücken oder zu verdammen. Und jedes Mal aufs Neue entdecke ich, dass hinter meiner Wut und Trauer Bedürfnisse stecken, die von mir gehört und ernst genommen werden wollen.

Nathalie H. heute. Bild: Privat

Auch erfahre ich Gott in einer Tiefe und Dimension, wie ich ihn so davor nicht gekannt habe. Dabei realisiere ich, dass mein Gottesbild in vielerlei Hinsicht nicht dem Bild eines liebenden, barmherzigen Vaters entsprach. Wo ich früher nur Leere und Verzweiflung gespürt habe und wo sich meine Seele mehr tot als lebendig angefühlt hat, nehme ich nun seine Gegenwart immer mehr wahr. Voller Freude kann ich sagen, dass ich mehr in mir angekommen bin und somit auch bei Jesus. Jahrelang dachte ich, dass es keinen Ausweg für mich aus meiner Depression gäbe, aber jetzt weiß ich, dass Paulus Recht hatte, als er den Korinthern schrieb: „In allem sind wir bedrängt, aber nicht erdrückt; keinen Ausweg sehend, aber nicht ohne Ausweg“.

Mit diesen Zeilen möchte ich Hoffnung machen und Zuversicht aussprechen. Ich bin überzeugt davon, dass es für jeden Menschen einen ganz individuellen Weg der Heilung gibt – und vor allem, dass es diesen Weg auch für dich gibt!

Anm. der Redaktion: Der Diakonieverein Eserwall e.V. am Eser 21 in Augsburg eine christliche Hilfseinrichtung, die psychisch kranken Menschen Hilfe auf dem Weg der Wiedereingliederung in das berufliche sowie soziale Leben bietet. Wenn du in einer vergleichbaren Notsituation bist kannst du dich auch an die Caritas Augsburg wenden.