Thema · Gebet

Das Vaterunser: Evangelium in Kurzfassung

Das Vaterunser ist das Gebet, das Jesus seinen Jüngern zu beten lehrte. Und es ist das Gebet, das alle Christen miteinander verbindet. Deshalb lohnt sich ein genauer Blick auf dieses Basic des Christentums, das wir schon so oft gebetet haben.

von Philipp Fröhling · 29.10.2024

Menschen strecken zum Gebet die Hände gen den Himmel.
Im Vaterunser werden wir alle zu Geschwistern. (Foto: Dee karen, stock.adobe.com)

Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts INSA-Consulere (2022) kann jeder zweite in Deutschland das Vaterunser auswendig aufsagen. Die Betonung liegt auf aufwendig aufsagen. Denn meistens beten wir die Worte Jesu wie selbstverständlich ohne wirklich in die Bedeutung dieser wahrscheinlich bekanntesten Worte Jesu einzutauchen. Zeit, die Tauchausrüstung auszupacken.

Das Vaterunser begegnet in der Heiligen Schrift zwei Mal. In einer etwas kürzeren Fassung finden wir das Gebet Jesu im Lukasevangelium. Nachdem die Jünger ihn auffordern: „Herr lehre uns beten!“ (Lk 11,1-4) Im Matthäusevangelium findet sich eine längere Version, die sehr nah an der Fassung ist, die wir heute im Gottesdienst gebrauchen (Mt 6,9-13).

Wir dürfen Gott Vater nennen

Die Einzigartigkeit des Gebetes Jesu besteht in dessen intimer Beziehung zum Vater. Die liebevolle Anrede Abba stößt besonders bei gläubigen Juden zur Zeit Jesu auf Widerstand. Die Anrede verwendeten Schüler, indem sie ihren Rabbi „Abba“ nannten. Es war nicht üblich, Gott mit diesem familiären Ausdruck anzusprechen.  Durch diese Anrede überbrückt Jesus die Distanz zwischen Gott und Mensch und nimmt uns in seine einzigartige Beziehung zum Vater hinein. Aus dem jüdischen Verbot, den Gottesnamen nicht aussprechen zu dürfen, wird ein anrufbarer Gottvater. Das ist der Grund, weshalb auch wir Gott als unseren Vater ansprechen dürfen. Diese neue Dimension der Gottesbeziehung hat nicht nur Auswirkungen auf uns als einzelne Person, sondern definiert auch, wie wir uns als Gemeinschaft der Christen verstehen und verhalten sollen. Wenn nämlich Gott unser aller Vater ist, dann sind wir untereinander Geschwister. Wenn wir Söhne und Töchter eines Vaters sind, dann sollten wir uns auch dieser Beziehung angemessen miteinander umgehen.

3x Du – Gott den Vorrang geben

Das Vaterunser besteht aus zwei großen Abschnitten. Im ersten Teil geht es darum, was Gott von uns braucht, um wirken zu können. Zum Ausdruck kommt das in den so genannten Du-Bitten. (Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe). Die Heiligung des Namens Gottes steht nicht zufällig am Beginn dieses Abschnittes. Der Name durchzieht die ganze Tora, unser Altes Testament, und steht seit der Begegnung am brennenden Dornbusch für die Gegenwart und Offenbarung Gottes. Es ist ein Name, der größer ist und über allen anderen Namen steht (Phil 2,9). Bedeutet: Überall dort, wo der Name Gottes über Menschen, Orte und Ereignisse gesprochen wird, will Gott mit seiner Gnade und seinem Willen gegenwärtig sein. Für uns Menschen, die wir naturgemäß menschliche Bitten gewohnt sind, vollzieht sich hier ein Perspektivwechsel, der herausfordernd sein kann: Denn wenn wir wirklich meinen, was wir da beten bedeutet das, Kontrolle abzugeben und Gott die Führung zu überlassen Dann können wir täglich neu fragen, was der Wille Gottes ganz konkret in diesem Moment ist. Wir kreisen in unserem Beten nicht mehr nur um uns selbst, sondern werden zu Mitarbeitern am Reich Gottes.

3x Wir – ganz menschliche Bitten

Die erste der Wir-Bitten ist eine der drängendsten und wie Papst Benedikt XVI. sagt, die menschlichste aller Bitten: „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Wer denkt da nicht zu allererst an die Armen und Hungernden auf der Welt. Es gibt so viele Menschen, denen das Nötigste für den Alltag fehlt. Auch in Deutschland nimmt diese Gruppe zu. Mit den Worten des Vaterunsers klingt das Wort Jesu mit: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ (Mt 14,16) Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, Hunger und Durst zu stillen. Gleichzeitig lebt der Mensch nicht nur vom Brot alleine. Keineswegs zu unterschätzen sind die geistigen Nöte des Menschen. Wahrscheinlich die schwierigste Übung in zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Vergebung. („Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“).  Die Unversöhntheit unter Menschen richtet die größten Schäden in unserer Gesellschaft an. Unsere Schuld kann aber nur durch Vergebung und nie durch Vergeltung überwunden werden. Nach christlicher Lehre ist die Vergebung sogar der Höhepunkt christlichen Betens.  (KKK 2844) Der griechische Wortlaut („wie auch wir unseren Schuldigern schon vergeben haben“) setzt unsere Vergebungsbereitschaft als Grundlage für die Bitte an Gott, er möge uns unsere Sünde vergeben. Die menschliche und die göttliche Vergebung stehen sich nicht gleichwertig gegenüber. Wenn Gott vergibt, dann vergibt er so, dass der Mensch innerlich erneuert einen Neuanfang wagen kann. Das Scheitern gehört genauso zum menschlichen Leben wie Prüfungen und Versuchungen, schließlich wurde auch Jesus in der Wüste in Versuchung geführt (Lk 4,1-13). Gott zeigt sich gerade in dieser Schlüsselszene nicht als jemand, der auf der Lauer liegt und auf das Scheitern des Menschen wartet! Er begleitet vielmehr in den Wüstenzeiten und Prüfungen des Lebens und gibt die Kraft, sie durchzustehen. Benedikt XVI. hat dazu folgendes kurzes Gebet formuliert: „Ich weiß, dass ich Prüfung notwendig habe, dass ich Prüfungen brauche (…). Denke, bitte, an das begrenzte Maß meiner Kraft. Trau mir nicht zu viel zu.“

Das Gebet des Vaterunsers spannt den Bogen vom göttlichen Heilswillen bis zur menschlichen Schwäche. Es ist, wie der antike Schriftsteller Tertullian sagte, „die Zusammenfassung des ganzen Evangeliums“. Damit drückt es den Kern des christlichen Glaubens aus: Gott ist der bis heute Handelnde, er schenkt uns die Lebensgrundlage, er ermöglicht Vergebung und führt uns durch die Prüfungen des Lebens einmal in sein himmlisches Reich.