Thema · Fazenda da Esperança

„Letzte Chance“ aus der Sucht

Die Sehnsucht nach einer intakten Familie, nach Geborgenheit und Zugehörigkeit treibt Moritz Bucher in die Sucht. Im Strudel von Drogen, Kriminalität, Gefängnisaufenthalten und Drogen-Rehas ergreift er im Alter von 33 Jahren seine „letzte Chance”.

von Moritz Bucher · 13.01.2021

Eine Mann hält eine Haschisch-Zigarette in die Kamera, sein Gesicht dahinter ist unscharf.
Symbolbild: Unsplash/GRAS GRÜN

Ich komme aus einer Patchwork-Familie und bin in einem Vorort Mannheims zusammen mit einem Halbbruder und zwei Halbschwestern aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, gab es einen Bruch in meinem Leben:  Meine Eltern trennten sich. Wenn ich heute zurückschaue, hat dieser Zusammenbruch der Familie sehr viel dazu beigetragen hat, wie mein Leben bis heute verlaufen ist.

Mit der Trennung meiner Eltern veränderte sich alles

Da ich das einzige leibliche Kind meiner Mutter war, zogen wir beide zusammen weg. Wir zogen aus unserem schönen Umfeld in die Mannheimer City. Eine ganz neue „Welt“. Der Trennungsgrund war mir damals nicht bekannt. Im Rückblick weiß ich, dass die Alkoholsucht meiner Mutter einer der Auslöser war. Ihre Sucht war mir nie bewusst geworden; sie war nie betrunken aufgefallen. Woran ich mich erinnern kann: Es gab viele Nächte, in denen ich aufwachte und niemand war zuhause. Der Kontakt zu meinem Vater und meinen Geschwistern brach ab. Was blieb, war eine tiefe Sehnsucht nach Familie.

Meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter und ich verlor mich in meinem Freundeskreis. Zusammen waren wir auf der Suche nach etwas, das uns mehr gibt, als der Frust zuhause oder in der Schule – dort gehörten wir eher zu den auffälligen Schülern.

Am Anfang rauchten wir Marihuana, dann bekamen wir unser erstes Heroin geschenkt

Diese Sehnsucht brachte uns dazu, mit 15 Jahren das ersten Mal Marihuana zu rauchen. Wir wollten so sein wie die Älteren aus unserem Stadtteil. Nur wenig später kamen wir das erste Mal mit Heroin in Kontakt. Anfangs bekamen wir es geschenkt und probierten es aus. Überhaupt nicht darüber im Klaren, welchen Schaden wir uns zufügten.

Nach einigen Tagen bekamen wir Entzugssymptome und bemerkten, dass sie erst weggingen, sobald wir wieder Heroin nahmen. Doch jetzt bekamen wir es natürlich nicht mehr geschenkt, sondern mussten dafür bezahlen. So kam es, dass wir kriminell wurden, um uns die Droge kaufen zu können. Es dauerte nicht lange, bis ich nach mehreren Festnahmen vor dem Haftrichter landete, der mich aufgrund der Straftaten in Untersuchungshaft schickte. 

Als meine Mutter starb, saß ich im Knast

Dort bekam ich nach drei Monaten die Nachricht, dass meine Mutter an Leberzirrhose verstorben war. Es war ein sehr einschneidendes Erlebnis für mich, besonders deshalb, weil ich mich nicht von ihr verabschieden konnte. Wenige Tage später besuchte mich mein Vater im Gefängnis und bot mir an, mich für die Beerdigung im Gefängnis abzuholen und danach wieder zurückzubringen. So konnte ich bei der Beerdigung dabei sein. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt wieder verheiratet und bot mir an, nach meiner Zeit in Haft bei ihm und seiner neuen Familie zu leben, solange ich mich an gewisse Regeln halten würde. Das Angebot nahm ich an. Ich war für diese Zeit sehr dankbar, in der ich zum Beispiel eine Berufsausbildung absolvierte. Nach ein paar Jahren bei meinem Vater zog ich wieder aus, um auf eigenen Beinen zu stehen.

Sehr schnell musste ich feststellen, dass alles nicht so klappte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich fiel zurück in die Drogen. Ab diesem Zeitpunkt – ich war damals ca. 20 Jahre alt – bestand mein Leben aus Drogen, Gefängnisaufenthalten und Kriminalität. Ein Leben in absoluter Dunkelheit und voller Sehnsucht. 13 Jahre lang.

Die Fazenda da Esperança war anders als alle Einrichtungen bisher

Mit 33 Jahren – ich war mal wieder in einer Klinik zur Entgiftung – traf ich einen Jugendfreund, der mir von der Fazenda da Esperança in Irsee erzählte. Es sagte, ich solle es mir wenigstens anschauen, und er könne sich vorstellen, dass mich dieser Weg in ein neues Leben bringt. Ich muss dazu sagen, dass ich bis dahin nur sehr wenig mit dem Glauben in Kontakt gekommen war. Ich war zwar getauft – mehr aber nicht.

Ich informierte mich und mein Entschluss stand schnell fest, dass ich diese  – für mich letzte – Chance nutzen wollte. Als ich am 25. Mai 2011 in Irsee ankam, wurde mir schnell klar, dass an diesem Ort etwas anders war, als in den anderen Einrichtungen, in denen ich bisher gewesen war.

Es kamen direkt Leute auf mich zu und nahmen mir meine Sachen ab, um mir zu helfen. Menschen, die mir zu diesem Zeitpunkt völlig fremd waren, sagten, dass sie sich freuten, dass ich da bin. Ich hatte das Gefühl, dass es auch so gemeint war, wie sie es sagten. Ein erster Lichtblick nach langer Dunkelheit.

Die Arbeit auf der Fazenda, die Gemeinschaft und das Gebet veränderten mein Leben

Ich konnte mich gut einleben und verstand schnell, dass es hier um mehr ging als „nur“ von der Droge loszukommen. Ich wurde zum Glauben begleitet, der mir seither Halt und Sicherheit gibt. Die Sehnsucht war verschwunden und seither bin ich angekommen. Wir haben jeden Tag ein Wort aus der Bibel, mit dem wir konkrete Erfahrungen machen möchten. Diese Worte machen uns zu neuen Menschen, lassen uns auf den Nächsten zugehen und weniger egoistisch sein. Gestützt auf den drei Säulen der Fazenda de Espreança, der gemeinsamen Arbeitens, des Lebens in Gemeinschaft und nicht zuletzt des Gebetes, habe ich nach einer gewissen Zeit gespürt, dass ich etwas von dem zurückgeben möchte, was ich auf der Fazenda erfahren habe. Ich bekam die Einladung, meine Rekuperation (lat. recuperare: sich neu gewinnen) in Brasilien zu beenden und eine Zeit als Freiwilliger mitzuleben.

In der Zeit in Brasilien ist meine Entscheidung gereift, Gottes Weg weiter zu gehen und andere auf dem Weg aus der Sucht zu begleiten. Dort habe ich auch meine Ehefrau kennengelernt, die aus Argentinien kommt. Wir sind seit 2016 verheiratet. Im Januar 2019 kam unser Sohn zu Welt, ein Geschenk des Himmels. Heute leiten wir als Familie eine Fazenda am Niederrhein und versuchen, im Kleinen Hoffnung zu sein. Durch die Beziehung zu Gott ist die Sehnsucht gestillt, die mich jahrelang begleitet hat. Heute habe ich das Gefühl, dass es mir an nichts fehlt und dass mich so leicht nichts mehr aus der Bahn werfen kann.

Profilbild Moritz Bucher
Moritz Bucher fand auf der Fazenda da Esperança den Weg aus der Drogensucht. (Foto: privat)

Anm. der Redaktion: Die Fazenda da Esperança (dt. Bauernhof der Hoffnung) in Bickenried ist eine christliche Hilfseinrichtung für Männer, die an einer Abhängigkeitserkrankung, Depression oder Essstörung leiden oder sich in einer Lebens- oder Orientierungskrise befinden. Für Frauen gibt es weitere Fazenda-Einrichtungen an anderen Standorten in Deutschland. Auf der Homepage findest du weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Ein Besuch im Hofladen (unter der Woche) oder im Hofcafé (sonntags) ist übrigens auch sehr zu empfehlen ;).