Thema · Katastrophale Berichterstattung

Doomscrolling – wenn die Timeline Angst macht

Das menschliche Gehirn schaltet bei Anzeichen von Gefahr auf maximale Aufmerksamkeit. Ein Schutzmechanismus, der maßgeblich zur erfolgreichen Evolution unserer Spezies beigetragen hat. Maximale Aufmerksamkeit des Menschen ist jedoch auch ein Thema, das Medienmacher interessiert. Denn am Medienmarkt besteht am Ende nur, wer diese maximale Aufmerksamkeit erhält. Nicht verwunderlich also, dass selbst seriöse Medien gerne mal an der Panikschraube drehen. Die Folgen, besonders für Jugendliche, sind – und jetzt spiele ich selbst die Alert-Karte – katastrophal. Eine Bestandsaufnahme.

von Sebastian Walter · 18.09.2023

Menschen filmen mit Handy die Wolke einer Atombombe
Adobe Stock / Thomasz Bidermann

Als in den 1970ern der Fernseher praktisch in alle Wohnungen eingezog und in den 1980ern auch die Privatsender in Farbe auf den Bildschirmen flimmerten, begannen Wissenschaftler damit, sich über die Auswirkungen dieser neuen Medienflut auf den Menschen Gedanken zu machen. Einer von ihnen war der Medienpsychologe George Gerbner. Von ihm stammt die berühmte These, die er das „Gemeine-Welt-Syndrom“ (mean world syndrome) nannte.

Danach führt der ständige mediale Konsum gewaltbezogener Inhalte dazu, dass ein Mensch seine Umwelt bedrohlicher empfindet, als sie in Wirklichkeit ist. Er wird misstrauischer und ängstlicher, bis hin zur Depression. Gerbner starb 2005. Das Jahr, in dem Social Media geboren wurde.

Neben über drei Stunden Fernsehen pro Tag – am liebsten übrigens Krimis und Thriller – verbringen die Deutschen heute laut Statista und ARD/ZDF zusätzlich zwei Stunden pro Tag mit Social Media, bei Jugendlichen sind es am Wochenende täglich drei Stunden. Kaum eine Studie, die dabei nicht auch alarmiert. Zum Beispiel die DAK-Studie von 2023: Bereits 600.000 Minderjährige in Deutschland gelten als mediensüchtig.

„Wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird, rutschen immer mehr Kinder und Jugendliche in die Mediensucht und der negative Trend kann nicht mehr gestoppt werden. So würden Familien zerstört und die Zukunft vieler junger Menschen bedroht“, warnt der Vorstandsvorsitzende der DAK, Andreas Storm. Ein besonders süchtigmachender Trend dabei:

Doomscrolling

Das neue „Gemeine-Welt-Syndrom“ heißt Doomscrolling. Das Phänomen begann mit den beängstigenden Videos von den Flugzeug-Crashs im World-Trade-Center und wurde während der Corona-Pandemie zum Massentrend: Der Konsum von Nachrichten über massive Bedrohungen, wie Kriege und Pandemien, über Klima- und Flüchtlingskrisen und Naturkatastrophen.

Auf den Websites der Krankenkassen findet man inzwischen nachdrückliche Warnungen vor den Folgen des Doomscrollings: Das Gefühl innerer Leere, Sorge und Hilflosigkeit, Schlaf- und Angststörungen sowie Depressionen sind mögliche Folgen.

Betroffen sind vor allem Jugendliche. „Junge Menschen fühlen sich wie in einem Dauerkrisenmodus, der weiter anhält und psychische Narben hinterlässt.“, resümiert der Leiter der aktuellen Trendstudie „Jugend in Deutschland 2023“, Simon Schnetzer und zählt die statistische Sorgenliste der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland auf: Angst vor Inflation (63%), Krieg in Europa (59%), Klimawandel (53%) und eine Wirtschaftskrise (45%). Ein Grund, so Schnetzer, seien nicht nur die tatsächlichen aktuellen Krisen dieser Welt, sondern auch eine „Katastrophisierung“ in den Medien.

„Je scheußlicher und absonderlicher, desto berichtenswerter“

Die Logik liegt auf der Hand und wird von Medienmachern auch gar nicht geleugnet: Je außergewöhnlicher und dramatischer die Nachricht, desto interessanter für den Empfänger. Es geht um Aufmerksamkeit. „Wir wissen seit vielen Jahren, dass negative Sachverhalte eine größere Chance haben, veröffentlicht zu werden, als positive.“, sagt Prof. Oliver Quiring, Leiter des Lehr- und Forschungsbereichs für Kommunikationswissenschaft am Institut für Publizistik der Universität Mainz. „Je scheußlicher und absonderlicher, desto berichtenswerter“.

Weil die mediale Konkurrenz groß ist, kommt es bei Krisenthemen immer wieder zur Überbietung von Schreckensmeldungen. Je krasser die Headline, je angsteinflößender das Bild oder Video, desto mehr Aufrufe, Likes, Shares und Kommentare. Selbst „seriöse“ Medien können der Versuchung bisweilen nicht widerstehen.

Beispiel Klimawandel. Da ist von der „Klima-Apokalypse“ die Rede, illustriert durch armageddonartige Bilder. Man hat den Eindruck, gerade die letzten Tage der Menschheit hilflos mitansehen zu müssen. Kein Wunder, dass „Klimaangst“ inzwischen ein eigener Forschungsbereich geworden ist.

Genauso unaufhaltsam wie die Klima-Apokalypse gestaltet sich die Eskalationsspirale in den Medien. Da titelt die Berliner Zeitung mit einem Zitat des Klimaktivisten Tadzio Müller: „Ich bin klimadepressiv, denn uns bleiben maximal zehn gute Jahre miteinander“.

Keine Frage: Wir leben in der Endzeit.

Was macht das mit einem?

Die zitierte Jugendstudie belegt, dass Stress, Erschöpfung, Selbstzweifel und Gereiztheit bei Jugendlichen in einem erschreckenden Ausmaß zugenommen haben. „Die psychischen Unterstützungsangebote in Schulen, Hochschulen und Unternehmen müssen schnellstens ausgebaut werden, damit es bei den besonders belasteten jungen Menschen nicht zu einer Verfestigung von Depressionen, Suchtverhalten und Isolation kommt“, so Studienleiter Schnetzer.

Doch es gibt auch einen Fluchtreflex vor der Flut der belastenden Nachrichten. Und der geht vor allem in zwei Richtungen: Da ist das „Nette-Welt-Syndrom“ (friendly world Syndrome), wie der Soziologe Dean Eckles es nennt. Gemeint ist das Ignorieren jeglicher negativer Berichte und eine Überschätzung des Positiven in der eigenen Umwelt – wie etwa die Anzahl der eigenen Freunde –, vorgegaukelt durch die algorithmengesteuerte Filterblase.

Ein anderer Effekt ist der Zweifel an den Medien selbst, die in einen Verschwörungsglauben münden kann. Die Gefühle des Ausgeliefertseins und des Misstrauens, das die drohenden Apokalypsen im Betroffenen auslösen, fällt in diesem Fall auf die Medienmacher selbst zurück. Die „Vertrauensstudie“ an der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2022 attestiert Jugendlichen ein wachsendes Misstrauen gegenüber Medien. Es wächst der Verdacht, manipuliert zu werden. „Das eklatante Misstrauen der Jugendlichen in die Medien, verbunden mit der Annahme, dass diese absichtlich Informationen verschweigen oder nur ihre eigene Meinung verbreiten, halten wir für alarmierend“, so Studienleiter Prof. Holger Ziegler. 37,6 % der Jugendlichen, die ihre Informationen vor allem aus den sozialen Medien beziehen, zeigen eine starke Verschwörungsneigung.

Seit der Corona-Pandemie sind Doomscrolling und seine Auswirkungen ein großes Thema geworden. Für Krankenkassen, Medien, Psychologen und Eltern. Wer selbst betroffen ist, findet im Netz Tipps, Videos und Apps für einen gesünderen Medienkonsum.