Credo: Fikret, wir jungen Erwachsenen von Heilig Kreuz kommen immer Sonntagabend nach dem Gottesdienst in dein Lokal, um Gemeinschaft zu haben. Wir merken dabei auch immer eine besondere Gastfreundschaft, mit der du uns willkommen heißt. Warum ist dir das so ein besonderes Anliegen?
Fikret Yakaboylu: Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen ist die junge Generation unsere Zukunft. Mir macht es als katholischer Christ Hoffnung, dass die Botschaft, die Jesus uns vor 2000 Jahren vermittelt hat durch den Einsatz, speziell der Jugendlichen, weiterlebt. Zweitens waren im Neruda bisher vor allem Atheisten, Buddhisten und Muslime zu Gast. Mich freut es, dass nun auch Katholiken in mein Lokal kommen und wir damit zeigen können, dass es möglich ist, dass unterschiedliche Kulturen und Religionen friedlich zusammenleben können. Die Menschen haben die Nase voll vom Krieg!
Credo: Du warst jahrelang Atheist und bist dann aber Christ geworden. Wie ist das passiert?
Fikret: Ich komme aus einer atheistischen Familie. Meine Eltern waren schon Atheisten, meine Großeltern und Urgroßeltern auch. Wir haben sogar noch von meinem Urgroßvater ein Tagebuch, indem er explizit empfiehlt von Religion aller Art die Hände weg zu lassen. Stattdessen hat meine Familie sehr stark an den Kommunismus geglaubt. Ich habe auch damals noch in der Türkei selbst in kommunistischen Parteien gearbeitet. Die Überzeugung meiner Eltern und auch die meine war es, dass durch den Kommunismus die Welt menschlicher wird, keiner mehr leidet und alle Unterschiede zwischen den Klassen aufgehoben sein würden.
Doch als der Kommunismus an die Macht kam, hat die Realität etwas anderes gezeigt. Mir wurde klar, dass egal wer unter welcher Ideologie Macht bekam, diese Macht im Letzten für eigene Interessen nutzte. Ich erkannte, dass politische Ideologie nicht reicht, um den Menschen zu ändern. Deshalb begann ich, mich mit Religion zu beschäftigen und fing schließlich auch an die Bibel zu lesen. Bisher kannte ich Gott nur von Muslimen und Juden als strafenden Gott mit wahnsinnig vielen Verboten. Doch mit Jesus kommt jemand vor 2000 Jahren von oben und sagt: Ich bin nicht gekommen um euch zu richten, sondern um euch zu retten (Vgl. Joh 3,18). Ich habe gar nicht gemerkt wie Jesus mich Stück für Stück zu sich gezogen hat.
Das was der Kommunismus an Solidarität und Harmonie versprach, aber im Letzten nicht umsetzen konnte, hat die Person Jesus Christus geschafft. Ich begann regelmäßig in die Katholische Kirche zu gehen und habe außerdem meine Kinder taufen lassen. Selbst bin ich diesen Schritt aber nicht gegangen, weil ich dachte, dass es die Taufe nicht zwingend braucht. Doch mir wurde klar, dass es nicht ohne die Taufe geht, wenn ich ein offizieller Teil der Kirche sein möchte. So habe ich mich schließlich dann auch noch selbst taufen lassen. Ich war in der Kirche sehr aktiv. Doch nur in der Kirche zu wirken war für mich aber auch etwas einseitig. Neruda bietet mir da etwas mehr Möglichkeiten, Menschen zu erreichen.
Credo: 2011 hast du das Kulturcafé Neruda gegründet. Was hat dich dazu bewogen?
Fikret: Ich bin ja nicht nur der Gründer und Betreiber von Neruda, sondern auch ein Künstler. Ich habe schon als Jugendlicher immer gemalt und Theater gespielt. Jetzt schreibe ich mittlerweile auch Theaterstücke. Allein in diesem Cafe sieht man sehr viele Kunstwerke von mir. Für mich war die Künstlerwelt immer etwas Besonderes und Freies, vollkommen frei von Zwängen. Augsburg ist eine Stadt der Vielfalt, wo Menschen aus verschiedenen Kontinenten und Kulturen miteinander leben. Und das ist wunderschön. Ich habe mir gesagt, dass ich nicht nur zuschauen will, sondern auch etwas für diese bunte Gesellschaft tun möchte.
So habe ich den Kulturverein gegründet und Künstler motiviert gemeinsam ein Festival auszurichten. Aber ich wollte auch ein Café eröffnen. Es sollte keine normale Gastronomie sein, wo man nur hinkommt, etwas trinkt, Musik hört und wieder geht. Vielmehr wollte ich einen Ort schaffen, wo Menschen sich in wunderbarer Weise begegnen und gemeinsam etwas bewegen. Und deswegen gibt es Neruda.
Credo: Was sind deine konkreten Projekte mit Neruda?
Fikret: Mit dem Kulturtage-Festival bringen wir Musiker aus der ganzen Welt nach Augsburg. Zudem haben wir unsere Herzen und Türen für Flüchtlinge geöffnet. Es ist schmerzhaft zu sehen, dass teilweise 13-jährige Jugendliche aus Syrien, Afghanistan oder auch aus Afrika ihre Eltern zurücklassen mussten, um mit Verwandten nach Deutschland zu kommen. Wir wollen ihnen zum einen helfen, die deutsche Sprache zu lernen. Ohne Sprache gibt es keine Integration. Das hat mit Nationalismus gar nichts zu tun. Wir machen zusammen mit dem Familienzentrum spezielle Deutschkurse, wo es weniger um Grammatik, sondern viel mehr um Austausch und Unterhaltung geht.
Zum anderen wollen wir den Flüchtlingen hier eine neue Heimat geben. Sie sollen dabei vor allem die deutsche Kultur kennenlernen. Wir haben zum Beispiel immer zu Ostern ein Osterfrühstück mit Flüchtlingen organisiert und dabei auch darüber gesprochen, woher diese Tradition kommt und warum Christen Ostern feiern. Auch die Flüchtlinge haben von ihren Traditionen erzählt und wir konnten einander immer besser verstehen.
Corona hat all das leider gestoppt. Das war eine harte Zeit. Durch viele kleine Spenden haben wir es aber geschafft zu überleben. Jetzt fangen wir wieder neu an und können beobachten wie schnell sich die Welt verändert hat. Jetzt gibt es die Krise im Nahen Osten. Außerdem tobt vor unserer Tür, in der Ukraine, ein Krieg. In fünf Jahren wird wieder alles komplett anders sein. Das zeigt mir, dass es keinen Ort der Welt gibt, der komplett sicher ist. Jeder könnte irgendwann selbst ein Flüchtling und auf Hilfe angewiesen sein. Wir gehören alle zusammen. Es gibt keine Fremden.
In dieser Hinsicht konnte ich selbst viel von Jesus lernen. Er hat mit ungläubigen Menschen gegessen und war für die, die ihn gebraucht haben da. Trotz religiöser Kritik hat er das gemacht. Jedes Jahr hören wir die Weihnachtsgeschichte, in der Josef, Jesus und Maria an die Türen klopften, um eine Herberge zu finden. Heute klopfen andere Menschen an unseren Türen. Wir müssen lernen unsere Türen zu öffnen. Sonst sind wir genau wie diese Menschen, die Josef, Jesus und Maria die Türen nicht geöffnet haben. Auch wenn wir sagen, dass wir Christen sind. Die Türen zu öffnen heißt für mich unsere Herzen zu öffnen.
Credo: Du wurdest vor kurzem für dein Engagement für Vielfalt, Frieden und Integration mit der Verdienstmedaille für Augsburg ausgezeichnet. Dein Engagement ist ja auch eng verbunden mit deiner Vergangenheit. Nimm uns da mal mit hinein.
Fikret: Zuerst einmal hat es mich sehr gefreut, dass die Stadt Augsburg meine Arbeit auf diese Art und Weise anerkannt hat. Der Preis ist aber nicht nur für mich, sondern für all die vielen Menschen die sich für Neruda und den Kültürverein engagieren.
Der Grund, warum mir die Arbeit mit Flüchtlingen so am Herzen liegt, ist, dass ich selbst als junger Erwachsener aus der Türkei nach Deutschland geflohen bin. In Folge des Militärputsches durch General Evren begann das faschistische Regime damals Andersdenkende systematisch zu verfolgen. Ich hatte Freunde in der Türkei, die einfach nachts von der Polizei abgeholt wurden und von denen man nie wieder was gehört hat. Mein Vater war Kandidat bei den Sozialdemokraten und hatte gute Kontakte, weswegen ich einen Pass organisiert bekam und fliehen konnte. Ich bin in Deutschland willkommen geheißen worden und konnte mich nach und nach hier einleben. Heute beschäftige ich mich nur noch wenig mit türkischer Politik.