Thema · Ein Zeugnis

Pilgerreise zu mir selbst

Liam erlebt seine Jugend ohne Vater, dafür in einer entgrenzten, konfliktreichen Jugendkultur. Durch den Einfluss eines Priesters in der Firmvorbereitung macht er sich auf einen Weg des Glaubens. Eine Identitätskrise während des Studiums führt ihn an den Rand der Verzweiflung, anschließend jedoch in eine tiefere Christus- und Selbsterkenntnis.

von Liam Wilson · 01.08.2025

Liam Wilson. Bildkollage ©Credo Redaktion. Liam: Selfie. Uni Eichstätt: Waldiwuff, commons.wikimedia.org. Kirchturm: Carlos Delgado, commons.wikimedia.org.

Bei meiner Taufe soll der Priester mich beschaut und gesagt haben: „des gibt e’mol en Parre“, da ich die Taufe wohl in einer Seelenruhe empfangen habe, die ihm an diesem Abend eine angenehme Abwechslung war. An dieser scherzhaften Prophezeiung geistlicher Lebensführung, lebte ich allerdings in den kommenden Dekaden erst einmal mit Schwung vorbei.

Ich wuchs in der Darmstädter Innenstadt auf. Meine Eltern waren nicht verheiratet. Christus spielte höchstens eine Nebenrolle. Ich ging zur Kommunion, wurde firmiert – das macht man eben so. Mein Haushalt wurde bald vaterlos und die „Freiheit” des alleinerziehenden Elternhauses nutzte ich, um das zu werden, was der Sozialarbeiter „urbanes Problemkind” genannt hätte: Ein Leben voller Unfug, Frühsexualisierung, Gewalt, Alkohol- und Drogenexzesse etc.

Während meiner Firmvorbereitung wuchs durch das Zutun des dortigen Pfarrers mein Interesse am Glauben und ich ging oft und gerne zur Heiligen Messe. Dies nährte die Gegensätze in mir zugunsten einer wachsenden Hinwendung zu Glaube und Kirche. Mit breit geschwollener Brust beantragte ich, in meinem Abiturzeugnis auch das konfessionelle Bekenntnis zu vermerken und wählte meinen Studienplatz in Eichstätt. Nicht zuletzt aufgrund des Prädikats „Katholische Universität”.

Knapp an der Verzweiflung vorbei

Das Jahr, in dem ich von zu Hause auszog, meine Stadt verließ und nun in der Fremde Erwachsen spielen musste, war nicht leicht. Es hatte mit einem herben Schlag – dem Tod eines guten Freundes – begonnen. Nun im ländlichen, für meine damaligen Begriffe sehr katholisch anmutenden Eichstätt angekommen, war ich plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass vieles, woran ich meinen Selbstwert festgemacht hatte: Wie weit kann ich meine Klappe aufreißen? Wie hart komme ich rüber? wie viel kann ich trinken? – mir hier nicht viel helfen würde, wenn ich anständig studieren und leben wollte.

Nicht, dass ich diese Sachen plötzlich hätte bleiben lassen. Oft eckte ich damit an und das machte mich betroffen, ja verzweifelt. Hatte ich zuvor in zwei Welten gelebt, mal in der Kirche und mal in der Gosse, so blieb statt letzterer nun ein Vakuum. Dieses hieß ich zwar willkommen, aber mein in Eichstätt reifender Glaube konnte es letztlich nicht ganz ausfüllen. Tag und Nacht feilte ich, der Verzweiflung nah, an einem neuen Selbstbild: zwischen Authentizität und Selbstdarstellertum, Sünde und Verlangen, großen Träumen und Zukunftsängsten.

Was in dieser Lage als flapsige aber unerschütterliche „Hilft-ja-nix-Attitüde” begann, fügte sich mir nach und nach zum persönlichen Gottesbeweis. Wo ich mein Ich zurückstellte und statt dessen Christus durch mich sprechen und handeln ließ, war ein Selbstbild plötzlich gar nicht mehr so wichtig.

Zu dem Guten mich antreibe, daß ich Gottes Kind verbleibe!

Schließlich zwangen mich die Umstände nach drei Jahren in Eichstätt zur Rückkehr in meine Heimat Darmstadt – ohne Diplom. Ich fühlte mich als Enttäuschung – für mich selbst und meine Familie. Es begann eine Zeit, in der ich den Geboten des Herrn mal wieder etwas ferner lebte.

Zur Messe ging ich trotz allem noch so oft es mir mein Alltag gestattete. An einem kühlen aber klaren Donnerstagmorgen im Oktober ging ich zur Messe in Sankt Elisabeth, der Kirche in der ich fünfzehn Jahre zuvor zur Erstkommunion gegangen war. Seither hatte sich dort viel getan. Die Kirchenfenster, die schon zu meiner Zeit diskutiert worden waren, waren endlich eingesetzt, der alte Pfarrer war im Ruhestand und ich kannte praktisch niemanden in der Bank.

Es waren vielleicht zwanzig Leute dort, allesamt sehr sangessicher und andächtig. Die Messe verlief gewöhnlich, doch vor dem Auszug sangen wir “Alles meinem Gott zu Ehren”. Ich war überrascht, denn ich erkannte es nicht wieder. Aber es regte sich dabei etwas in mir, als hätte ich es bereits viele Male gesungen. Auf dem Heimweg setzte ich Kopfhörer auf und hörte es immer wieder. Ich wurde nachdenklich. Für wen lebe ich und wem bin ich zuvorderst Rechenschaft schuldig?

Liam Wilson. Bild: Selfie.

Die Antwort war schnell gefunden: Dem Herrn! Dem allgütigen Willen des Herrn will ich zuerst entsprechen. Über die Gefühle von Schuld und Scham gegenüber Familienmitgliedern, die ich höchstens alle Jahr und Tag sehen würde, hatte ich vergessen, dass ich zunächst einmal vor dem, der immer an meiner Seite ist, lebte. Dass ich zuerst ihn ehren wollte, durch das, was ich tue.

Ich schaute aus dem regenbeschlagenen Straßenbahnfenster hinaus und bemerkte in diesem Moment, dass sich die Ausrichtung meines Lebens bereits nachhaltig verändert hatte. Und so wusste ich auch meine Zeit in Eichstätt einzuordnen, über die ich mich nur einige Stunden zuvor noch verflucht hatte. Der Glaube war mir aus Eichstätt gefolgt und ich war unendlich froh darüber.

Christus erkennen, wie ich erkannt bin

Dass Christus mich bedingungslos liebt, auch wenn ich es nicht tue, das hatte ich irgendwann begriffen. Nun wollte ich dieser Liebe in jedem Fall gerecht werden. Tat ich das und lebte, wie es dem Herrn gefällt, schwanden Ängste und Sorgen zwar nicht wie von selbst, aber ich drohte nicht mehr daran zu zerbrechen.

In mir verdichtete sich die Gewissheit, dass ich mich nicht zu verbiegen brauche, um Christus zu finden, denn er ist ja immer da gewesen, bei allem, was ich je getan hatte. Wenn ich auch von einer Versuchung zur nächsten stolperte und gelegentlich in Unmut und Sünde verfiel, lernte ich aufrichtig, Vergebung zu finden, sowie die Hoffnung und das Vertrauen, dass Christus uns gibt, was wir auf unserem Pilgerweg zu ihm brauchen.