Thema · Leitartikel

Kirche – überholt?

So angespannt und kontrovers wie derzeit innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland, wurde schon lange nicht mehr um das Selbstverständnis der Kirche gerungen. Immer wieder ist zu hören oder zu lesen, dass den Polarisierungen eben ein unterschiedliches Kirchenverständnis zugrunde läge. 

von Prof. Dr. Gerda Riedl · 02.08.2022

notre dame du haut ronchamp fenster
Außenperspektive auf die Fensterseite von Notre Dame du Haut bei Ronchamp, Frankreich. Erbaut 1950-1955 vom französischen Architekten Le Corbusier. Bild: Prof. Dr. Gerda Riedl.

Bei den meisten Katholiken dürfte das Kirchenverständnis in erheblichem Maße abhängig sein von jeweiligen Erfahrungshorizont: Kirche als ein Ort, an dem man Gemeinschaft erleben kann, als eine Art Heimat, als Trost und Hoffnung in herausfordernden Lebenssituationen, als Raum der Begegnung mit dem Heiligen… Kirche als Amtskirche mit überholter Struktur und Moral, als Hindernis auf dem eigenen Glaubensweg, als Verein, mit dem man nicht länger identifiziert werden möchte… Womöglich hilft es bei so disparater Lage weiter, darüber nachzudenken, wozu die Kirche eigentlich da ist.

1. Authentische Verbindung zum Ursprung des Glaubens und dessen Vergegenwärtigung

Zuallererst ist sie als Glaubensgemeinschaft Garant für die authentische Verbindung zum Ursprung dieses Glaubens und dessen Vergegenwärtigung: In der Menschwerdung Jesu Christi, seiner Sendung, seinem Tod und seiner Auferstehung wendet Gott sich uns auf unüberbietbare Weise zu. Das Erbarmen des Vaters überstrahlt im Heiligen Geist den Tod des Sohnes und reicht so über die bloße Lebensgeschichte des Jesus von Nazaret hinaus: die Auferstehung Jesu Christi wird auf diese Weise zum Prototyp unserer eigenen Auferstehung!

Und: In Jesus Christus ereignet sich eine personale Begegnung zwischen Gott und Mensch. Diese wird im sakramentalen Geschehen auch heute konkret und wirklichkeitsverändernd erlebbar, sofern Menschen sich dieser Begegnung öffnen. Dabei sind nach dem Verständnis der katholischen Kirche für die Vermittlung der sakramentalen Dimension diejenigen Glieder der Kirche Gottes unverzichtbar, die dafür einen besonderen Auftrag Gottes und die entsprechende Befähigung im Weihesakrament übertragen bekommen haben.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Kirche für die Menschen da ist und von Menschen (durch die Zeit) getragen wird, in ihrem Kern aber eine Initiative des dreifaltigen Gottes ist. Das hat auch Konsequenzen für ihre Struktur. Mehr aber noch für ihren Daseinszweck! Sie vermittelt und realisiert Gottes Angebot für jede und jeden: „Lass dich heiligen, lass dich versöhnen, lass dich beschenken, indem Du Ikone Christi wirst“. Genau das geschieht in der Taufe: Wir werden durch die Taufe Christus gleichgestaltet und leben damit in einer innigen Gottbezogenheit. Sie ist auch der Grund für die enge Beziehung zu allen unseren Glaubensgeschwistern, die durch die Taufe ebenfalls diesen besonderen Christusbezug haben. Doch ist es erfahrungsgemäß ein Ding der Unmöglichkeit diese besondere Gottesbeziehung unbeeinträchtigt auf dem Lebensweg zu bewahren.

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Innenperspektive auf die Fensterseite von Notre Dame du Haut. Bild: Rory Hyde, flickr.com, CC BY-SA 2.0.

2. Weggemeinschaft und Orientierungshilfe

Daher stützt die Kirche als Familie Gottes sich gegenseitig auf ihrem Weg durch die Zeit ebenso wie auf jedem individuellen Lebens- und Glaubensweg, wird gestärkt durch den sakramental vermittelten Gottesbezug und muss je neu auf der Grundlage von Gottes Selbstmitteilung (in Heiliger Schrift und Menschwerdung Jesu Christi) Antworten auf die Fragen und Nöte der Menschen finden. Ihr Auftrag ist Ermutigung, Respekt und Fürsorge. Oder um es mit dem Apostel Paulus zu sagen: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2) Dabei helfen drei Säulen des kirchlichen Lebens: den Glauben bezeugen (Martyria), den Glauben feiern (Leiturgia) und den Glauben leben (Diakonia).

3. Hoffnungszeichen

In dem Maße, in dem uns allen mit Gottes Hilfe ein Leben aus diesem Geist der Güte, Nähe und Selbstlosigkeit gelingt, wird anfanghaft schon diese Welt ein besserer Ort. Verheißen ist uns aber noch viel mehr: ein Leben in der Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott und allen Menschen guten Willens, das ohne Fragmentierung, ohne Beschränkung, ohne Schmerz sein wird. Mit Blick auf diese Zukunftsperspektive haben viele Generationen von Christen ihr Leben gemeistert, waren manche bereit, sogar ihr Leben für ihre Glaubensüberzeugung hinzugeben. Auch dafür steht die Kirche, auf deren „Antlitz“ die Herrlichkeit Christi widerscheint, wie es das Zweite Vatikanische Konzil formulierte (Lumen gentium 1). Sie ist – bei allen Mängeln und aller Sünde ihrer Mitglieder – „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (Lumen gentium 1) Es ist an uns allen, die wir zu dieser Glaubensgemeinschaft gehören, das unsere zu diesem Projekt Gottes beizutragen.

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