Thema · Vom Gebet der liebenden Aufmerksamkeit

Gott am Brunnenpunkt der Wirklichkeit

Wir leben in einer Welt, in der wir Fact und Fake kaum noch voneinander unterscheiden können. Ist es da überhaupt möglich, Gott zu finden und zu erfahren? Der hl. Ignatius von Loyola hat einen Tipp für uns, wie wir Gott auf ganz persönliche Weise begegnen können.

von Domvikar Andreas Miesen · 01.12.2021

Abgang zu einer tiefen Quelle
Sintra, Portugal. Symbolbild: Alexanderkonsta, stock.adobe.com.

In einer Welt, die von Nachrichten auf Trab gehalten wird, ist es immer schwieriger geworden zu unterscheiden, welche Informationen wahr sind und welche falsch. Und was heißt hier überhaupt wahr und falsch? Bildet eine Nachricht die Wirklichkeit tatsächlich adäquat ab, ist sie vielleicht ein bisschen in die eine oder andere Richtung übertrieben oder doch schon Propaganda und gezielte Desinformation? Was ist überhaupt die Wirklichkeit? Wie kann ich sie wahrnehmen und erkennen? Oder ist doch alles nur subjektive Konstruktion?

Ausgehend von unserer alltäglichen Erfahrung, stellen wir schnell fest, dass wir die Wirklichkeit, das Leben, die Welt, die Menschen einfach unterschiedlich wahrnehmen. Die eine Wirklichkeit wirkt auf uns Viele eben vielfältig, jede und jeder nimmt anders und Anderes wahr. Das heißt aber, dass wir die Menschen und Dinge nie so wahrnehmen, wie sie sind, sondern immer nur wie wir sind; im besten Fall sind wir uns dessen auch bewusst. Aber gerade in der subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit besteht für uns die Möglichkeit, Gott auf unsere ganz persönliche Weise zu begegnen.

Die Wirklichkeit spricht von Gott

„Gott in allen Dingen finden“, das ist nicht nur ein Grundgedanke der Spiritualität einer Theresa von Avila oder einer Mechthild von Magdeburg, eines Johannes vom Kreuz oder eines Meister Eckhart, es ist auch der spirituelle Grundauftrag, den Ignatius von Loyola seinen Brüdern im Jesuitenorden mit auf den Weg gab. Im Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, im abendlichen Tagesrückblick, geht es ihm darum, in allem Erleben des vergangenen Tages Gottes Spuren der Liebe wahrzunehmen. Im Deuten der erfahrenen Wirklichkeit im Licht des Evangeliums wird Gottesbegegnung erfahrbar. 

Wenn Gott in allen Dingen zu finden ist, wenn alle Wirklichkeit aus Gott kommt, dann führt uns jede Begegnung mit der Wirklichkeit auch immer in die Begegnung mit Gott und umgekehrt. So kann Madeleine Delbrêl sagen: „Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die Welt.“ (Annette Schleinzer, Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe, S. 217) Wenn aber Gott und Wirklichkeit einen so wechselseitigen Bezug haben, dann muss die Wirklichkeit, auch wenn ich sie leidvoll erfahre, von Gott sprechen und bei ihm geborgen sein. Das macht P. Alfred Delp SJ deutlich, als er wenige Monate vor seiner Hinrichtung durch die Nationalsozialisten schreibt:

Darstellung von Alfred Delp auf einer Gedenktafel in Mannheim, abfotografiert von Graf Foto, commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0.

„Das Eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen, wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt … für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.“ (Pater Alfred Delp SJ, 17. November 1944, Gesammelte Schriften, Band IV, S. 26)

Offenheit für ein Leben mit Gott

Gott ist in der Welt zu finden, d.h. er ist in meiner Wirklichkeit gegenwärtig und in ihr erfahrbar, ganz egal wie gut oder schlecht diese Wirklichkeit auch aussieht. Aber Gott ist eben eher nicht an der Oberfläche zu erfahren, es braucht den Gang in die Tiefe, den Vorstoß zum „Brunnenpunkt“. Für Ignatius ist das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit der Weg dorthin, denn hier geht es darum, die Wirklichkeit meines Lebens bis an ihren Brunnenpunkt hin zu erfahren, sozusagen in meiner Wirklichkeit der Wirklichkeit Gottes zu begegnen.

Christlicher Glaube ist daher niemals irgendeine abgehobene Ideologie im Wolkenkuckucksheim, sondern vielmehr geerdete Beziehung mit dem fleischgewordenen Gott. Damit ist Glaube so ziemlich das Gegenteil von Überzeugung. Überzeugung gibt Sicherheit, aber Glaube ist Sicherheit in Unsicherheit. Offenheit für die Wirklichkeit, was auch immer sich daraus ergeben mag, wohin mich das auch immer führen wird, das ist Offenheit für ein Leben mit Gott.

Interesse am ignatianischen Tagesrückblick? Hier findest Du mehr: Ignatianischer Tagesrückblick – Jesuit Volunteers (jesuit-volunteers.org)