Vor Ort · Jahresrückblick und Meer

Ein Jahr voller Sehnsucht?

„Also ich seh‘ uns auf jeden Fall wieder zu zweit in Urlaub fahren!“, sagt mein Ex und wechselt meinen letzten Autoreifen mit der kundigen Eleganz und der versierten Routine des Autoschraubers. Tatsächlich ist mein Sommer, wie der der meisten Menschen, in diesem Jahr sehr unspektakulär und etwas langweilig verlaufen. Lange Nachmittage an der Wertach mit den Beinen im Wasser und Sonnenbrand auf der Nase machen Spaß, ersetzen halt aber kein Meer und keinen Strand.

von Lena Schlund · 17.12.2020

Und tatsächlich meine ich in der Werkstatt beim Reifenwechseln ein bisschen das Meersalz im Haar zu spüren und ein bisschen den gegrillten Oktopus zu riechen. Auf einmal kann ich mir gut vorstellen, dass hinter den dichten Nebelbänken vor dem Fenster irgendwo die Adria glitzert.

Symbolbild: ©simona - stock.adobe.com

Am Meer, finde ich, bin ich Gott am nächsten. Das Meer ist riesengroß und so tief, dass ich es mir nicht vorstellen kann. Wenn ich mit meiner alten Luftmatratze darauf rumplantsche und den Horizont betrachte, komme ich mir ziemlich winzig vor und manchmal macht mir das Angst. Aber ich finde dieses große Wasser so enorm toll, dass ich sehnsüchtig werde, wenn ich lange nicht da war.

Als ich auf Winterreifen den Heimweg antrete, hat mich mein Fernweh noch nicht ganz verlassen. Auch das Gefühl, dass ich in eine Wohnung fahre, in der ich auf einmal ganz allein lebe, behagt mir nicht so ganz. Wenn Beziehungen nicht mehr funktionieren, muss man sie beenden, aber zu meinem Fernweh gesellt sich plötzlich noch eine andere Art Sehnsucht: Für zwei Personen kochen hat mir immer großen Spaß gemacht. Das Wissen, dass jemand da sein wird, wenn ich nach Hause komme, hat mich beruhigt. Stress an der Uni oder in der Arbeit konnte ich sofort bei jemandem abladen. Zu zweit ist einfach vieles leichter.

Ich sperre die Haustür auf, mache mir einen Kaffee und setze mich aufs neue Sofa. Die Katzen zanken sich um den Liegeplatz auf dem Wohnzimmerschrank, irgendwo auf der Straße spielen zwei Kinder. Ich schnappe mir mein Handy und rufe meinen Ex an. „Ich bin traurig, dass es nicht geklappt hat mit uns“, sage ich. „Wieso das denn?“ Er scheint ein bisschen verwundert. „Ich find’s gut,dass du zur Sprache gebracht hast, dass es nicht mehr passt zwischen uns. Hätte ich mich nicht getraut. Jetzt können wir nächstes Jahr als Freunde wegfahren. Ist ja nicht alltäglich, dass man jemanden hat, mit dem man’s zwei Wochen im VW-Bus aushält, oder?“ Er lacht. „Jeden anderen hätte ich nach drei Tagen mitm Radkreuz erschlagen,glaub‘ ich…“

Das tröstet mich. Aus Sehnsucht nach der Ferne kann Vorfreude auf den nächsten Urlaub werden, aber Sehnsucht nach der Vergangenheit bringt uns nicht weiter. Dieses Jahr hat Gott mir die Kraft gegeben, eine Beziehung zu beenden, in der zwei Menschen nicht mehr dasselbe Ziel vor Augen hatten. Sowas tut weh. Aber mir wurde nicht meine Liebesbeziehung genommen, mir wurde nur ein neuer Freund geschenkt.

Lena Schlund (Foto: privat)

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