Thema · Ein Plädoyer

Eine mütterliche Kirche

Es war der Spätsommer 2006, als ich als junger Seminarist in Richtung Rom aufbrach. Zwei Jahre Philosophie und Theologie lagen hinter mir, vor mir ein Studienjahr mit klaren Vorstellungen: Weltkirche erfahren, den deutschen Papst aus der Nähe erleben, auf den Spuren der Heiligen unterwegs sein und natürlich auch Italien, das Sehnsuchtsland von uns Deutschen, entdecken. Doch dann kam vieles anders als geplant.

von Daniel Rietzler · 26.10.2022

Fensterglas Maria mit Jesuskind
Fensterglas Maria mit Jesuskind. Bild: Long Thiên, flickr.com, CC 2.0 BY SA.

Aus den geplanten zehn Monaten wurden mehr als drei Jahre. Es war eine herausfordernde und prägende Zeit: allzu enge Vorstellungen von Glauben und Kirche wurden auf den Boden der Tatsachen geworfen. Die internationale christliche Berufungsgemeinschaft Casa Balthasar stand mir auf einmal offen. Dort ließen mich das gemeinsame Leben in Gebet, Arbeit und Studium das christliche Leben tiefer entdecken. Es eröffnete mir zudem einen neuen Weg der Berufungsklärung, der auch einen zwischenzeitlichen Austritt aus dem Priesterseminar zur Folge hatte. In dieser Zeit ist mir die Kirche neu aufgegangen: Die Kirche mit einem mütterlichen Profil, die ihre verunsicherten Kinder aufnimmt, ihnen einen Lebensort eröffnet und Nahrung schenkt. Von dieser Kirche möchte ich hier ein wenig berichten.

Marias Ja – als stiller Anfang der mütterlichen Kirche

Der Beginn des Lukasevangeliums führte mich in einen tieferen persönlichen Zugang zu Maria und ihrer Bedeutung für die Kirche. Dort wird uns bei der Verkündigung Maria und ihre Begegnung mit dem Engel geschildert. Dieser sprach der jungen Frau eine Verheißung zu, die all ihre Vorstellungen übersteigt. Auf ihre kurze Zwischenfrage geht er ein, bevor sie die weltverändernden Worte spricht: „Siehe ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort“ (Lk 1, 38).

Man kann nur staunen über diese mutigen Worte, die aus dem Vertrauen auf Gottes Liebe und Treue zu seinem Volk schöpfen. Hier und an anderen biblischen Stellen wird das Profil sichtbar, für das Maria steht: Das verfügbare Ja gegenüber Gott, Lobpreis von Gottes Taten, stilles und risikobereites Hören auf Gottes Wort, Aufbruch und Mut zum Dienen, Annahme auch des verletzlichen Lebens, Treue im Stillen, Stehen beim Kreuz, Leben und Beten in Gemeinschaft. Äußerlich verschwindet sie nach Pfingsten, taucht in die entstehende Kirche ein und gibt so dem ganzen Leib innerlich Anteil an ihrem gottbereitem und von Gott erfüllten Leben. Durch Maria erwächst der Kirche ihr mütterliches Profil. 

Kirche in ergänzenden Profilen

Vom Ursprung der Kirche her darf nämlich eines nicht vergessen werden: Im Sinne des Erfinders geht es bei der Kirche um einen lebendigen Organismus, nicht um eine starre Organisation. Kirche ist nicht als „System“ erdacht, sondern aus konkreten Menschen, die mit Jesus leben. Menschen, die sich rufen lassen und bereit sind, der Kirche ein Gesicht zu geben. In diesem Sinn kommt Maria durch ihre Mitwirkung an der Menschwerdung des Gottessohnes ein besonderer Platz zu. Man könnte sagen: Maria war schon Kirche, bevor Christus dieser in den Aposteln Ämter gegeben hat. Immer beruft Gott Menschen in ein Füreinander. Er bildet seine Kirche im Miteinander unterschiedlicher Personen und Dienste, das „Maria- Profil“ der Kirche steht dabei vor dem „Petrus- Profil“. Es ist diesem jedoch innerlich verbunden, so dass beide in gegenseitiger Ergänzung leben können.

Dabei scheint mir in unseren aktuellen Diskussionen in Deutschland gerade das marianische Profil in Glauben und Kirche zu kurz zu kommen – mit dramatischen Folgen, die Hans Urs von Balthasar im Jahr 1972 in seinen Klarstellungen prophezeite: „Ohne Mariologie droht das Christentum unter der Hand unmenschlich zu werden. Die Kirche wird funktionalistisch, seelenlos, ein hektischer Betrieb ohne Ruhepunkt, in lauter Planung hinein verfremdet. Und weil in dieser mann-männlichen Welt nur immer neue Ideologien einander ablösen, wird alles polemisch, kritisch, bitter, humorlos und schließlich langweilig. Und die Menschen laufen in Massen aus einer solchen Kirche davon.”

Eine mütterliche Kirche werden

Diese leider zutreffende Diagnose erfordert somit eine marianische Profilierung. Sie erfordert Christen, die wie Maria bereit sind für Gottes Anruf, die sich von ihm formen lassen, den Gott des Lebens lobpreisen und den Mitmenschen mit Gebet und Tat eilends entgegenkommen. Eine Kirche, die ihre verunsicherten Kinder aufnimmt, ihnen einen Lebensort eröffnet und als Nahrung den lebendigen Christus in Wort und Sakrament schenkt.

Im Rückblick auf den bisherigen Glaubens- und Lebensweg bin ich vielen Menschen zum Dank verpflichtet. Männern und vor allem Frauen, durch die mir die Kirche zur Mutter geworden ist, neben den Mitchristen in der Casa Balthasar vor allem der Glaubenserziehung meiner Mutter und dem frohen Glaubenszeugnis der drei Großtanten im Kloster der Barmherzigen Schwestern. Durch Christen, die mit dem lebendigen Christus verbunden sind, wird Kirche erfahrbar und in ihrer mütterlichen Sendung erkennbar. Eine solche Kirche ist zunächst voller Sehnsucht nach Gott und seiner göttlichen Lebenskraft. Sie erbittet gemeinsam mit Maria, empfängt dankbar und weiß dann eilends zu den Kindern dieser Zeit aufzubrechen, um ihnen das empfangene Brot zum Leben inmitten aller gegenwärtigen Nöte zu verteilen.

Wer weiß, vielleicht ist es wieder die Not der Zeit, die mit dem Geist Gottes zusammenwirkt und uns zu einer offenen, empfangsbereiten und Geborgenheit schenkenden Kirche umgestaltet und zu einer Kirche mit mütterlichem Profil macht, einem zugewandten Herzen, das Wärme und Geborgenheit vermittelt in einer für viele erkaltenden und entfremdenden Welt.